Mein Weg zum Transeuropalauf

 

TransEurope-FootRace

von Lissabon nach Moskau

in 64 Tagen über 5.100 km

19.April – 21. Juni 2003

www.transeuropalauf.de

 

Prolog

„Dieser Lauf ist doch der Wahnsinn. 5.100 km in 64 Tagen, das sind gut 2 Monate, jeden Tag durchschnittlich 80 km. Nur Verrückte machen so etwas, oder etwa nicht? Selbst wenn die Begeisterung da ist, wie soll der Körper das mitmachen? Die Gelenke, Knochen und auch die Muskeln? Mir ist das jedenfalls völlig unbegreiflich. Was ist das bloß? Was treibt jemand dazu, solche Strapazen auf sich zu nehmen? Warum tut man so etwas? Wozu diese Quälerei? Für das Glücksgefühl am Ziel? Für die Bestätigung? Für die Überwindung eigener Grenzen? Warum? Kannst Du es mir erklären? Oder gibt es keine Erklärung?"

So eine gute, langjährige Freundin von mir, die mit dieser Ansicht keineswegs alleine steht, wobei die meisten es nicht so klar zur Sprache bringen. Und ich muß gestehen, vor nicht allzu langer Zeit hätte auch mir die Vorstellungskraft zu solch einem Lauf gefehlt.

„Die Erde schenkt uns mehr Selbsterkenntnis als alle Bücher, weil sie uns Widerstand leistet. Und nur im Kampf findet der Mensch zu sich selbst. Aber er braucht dazu ein Werkzeug, einen Hobel, ein Pflug" (Antoine de Saint-Exupéry). Ist der Transeuropalauf, die mit ihm verbundene Distanz, der Lauf bei jedem Wetter, ohne Ruhetag, gleichgültig wie ich mich fühle, ob die Glieder schmerzen oder nicht, der Geist sich sträubt und unwillig ist, so ein Werkzeug?

Natürlich kann ich eine ganze Reihe rationaler Gründe anführen, aus dem Gefühl heraus ergänzen:

ein unvergeßliche Erlebnis,

ein Abenteuer, eine Herausforderung,

mit Pionier beim ersten Transeuropalauf zu sein,

eine unvergleichliche Art Europa und seine Menschen zu erleben,

Teil einer Laufgemeinschaft aus verschiedenen Nationen zu sein,

eine intensive Selbsterfahrung , die persönliches Wachstum beinhaltet,

ein Experiment mit ungewissem Ausgang,

der richtige Augenblick in meinem Leben.

Reicht das? Was meinen Sie? Mir selbst verbleibt ein unerklärlicher Rest. Dabei bin ich davon überzeugt, daß des Rätsels Lösung in mir verborgen vorliegen muß. Woher sonst dieser Impuls, die Entscheidung, daran teilzunehmen, ohne mir darüber im klaren zu sein, worauf ich mich eigentlich eingelassen habe.

Der Weg zur Anmeldung

Im November 2001 bin ich aus Zufall im Internet auf den Transeuropalauf gestoßen. - „Zufall ist ein Wort ohne Sinn; nichts kann ohne Ursache geschehen" (Voltaire). „Zufall ist ein Verlegenheitswort, wenn wir für die tiefen Zusammenhänge des Lebens blind sind" (Hannes Lindemann). - Ab da war der Gedanke in meinem Kopf verankert. Hatte ich zum letzten Geburtstag doch das Buch von Helmut Linzbichler „Der Transamerikalauf" geschenkt bekommen und vorab den Roman von Tom McNab „Das Rennen" gelesen („Flanagan’s Run" im Original), in dem die beiden ersten Transamerikaläufe 1928 und 1929 schriftstellerisch verarbeitet worden sind. Jedoch zweifelte ich stark an meiner psychischen und physischen Befähigung. Betreibe ich das Laufen zwar seit 1979, bis 1996 jedoch als reiner Ausgleich zu Studium und Beruf, 1-3 mal die Woche, 45 – 90 Minuten. 1997 mein erster Marathon, 2001 mein erster Ultra, die 100 km von Biel. Daher gab ich mir Bedenkzeit bis Mai 2002. Während dieser Zeit steigerte ich einerseits das Training, andererseits suchte ich nach Erfahrungsberichten (u.a. „Running the TransAmerica Footrace: Trials and Triumphs of Life on the Road" von Barry Lewis, „Meditations from the Breakdown Lane: Running Across America" von James E. Shapiro).

Nachdem ich mich mehrere Monate mit dem Gedanken am Transeuropalauf teilzunehmen intensiv auseinander gesetzt habe, konnte ich Anfang Mai 2002 die Anmeldung feiern. Abgesprochen mit meiner Frau, die sich bereit erklärt hat als Betreuerin meinen Lauf zu begleiten, wofür ich ihr von ganzem Herzen dankbar bin. Ein Freund hat mir erzählt: Wenn wir uns eine Zeitlang mit einer Absicht, einer Idee etwas zu tun, beschäftigen, gelangen wir an einen Punkt, von dem es kein Zurück mehr gibt. Die Absicht, die Idee wird zum Ziel, hat von uns Besitz ergriffen. Ein Zurück wäre Verrat, Niederlage, ohne es versucht zu haben.

Der Weg zum Trainingsplan

1. Der Körper

Für die Zeit von Ende August 2002 bis zum Start des Transeuropalaufes am 19. April 2003 begann ich nun einen Trainingsplan aufzustellen (Anfang Juni bis Ende August stand nicht zur Verfügung, da ich 3 Monate mit meiner Segelyacht unterwegs war). Dazu recherchierte ich im Internet und wurde insbesondere bei amerikanischen Ultraläufern fündig.

Der Plan umfaßt insgesamt etwas über 5.000 km im Laufe von 33,5 Wochen, was ein Wochenmittel von 150 km bedeutet. Er ist im wesentlichen eingeteilt in 4 Wochen Blöcke. Auf jeweils 3 Steigerungswochen folgt eine Regenerationswoche mit reduziertem Kilometerumfang. Der folgende Block beginnt sodann auf einem etwas höheren Niveau. So gelange ich über die Zeit von 60 km in der Woche auf 225 km in der Spitze. Gelaufen wird an 4 Tagen in der Woche, in der Spitze sind es 5 Tage. Die lauffreien Tage dienen der Anpassung des Körpers an die Belastung, sollen zudem Verletzungen möglichst vorbeugen .

2 der Läufe gehen über 50 bis zu 70 km, um den Körper an die langen Strecken zu gewöhnen. Dabei werden alle 25-30 Minuten, angepaßt an das Gelände, Gehpausen von ca. 4 Minuten bergauf eingelegt. Die Gehpausen dienen der Erholung, der Reduzierung der Belastung sowie der Aufnahme von Flüssigkeit. Die Gehpausen sollen mich insbesondere während der ersten 2-3 Wochen beim Transeuropalauf vor einer zu hohen Geschwindigkeit und damit zu starken Belastung schützen. Die Erfahrung vieler Ultraläufer hat gezeigt, daß, auch wenn nur ein klein wenig überzogen wird, aus einer plötzlichen Euphorie heraus oder um mit jemand anderen mithalten zu können, ein hoher Preis zu zahlen ist. Ob dabei eine Lauf-Geh-Strategie von 25 Minuten laufen, 5 Minuten gehen (25:5) oder 5:1 oder ein anderes Verhältnis die beste Strategie ist, kann ich derzeit nicht beurteilen, die Meinungen dazu gehen auseinander. Ich muß es darauf ankommen lassen, der Situation entsprechend reagieren.

1 Lauf der Woche ist ein Tempolauf über 15 km plus jeweils 3-4 km ein- und auslaufen, um auch einmal einen anderen Belastungsreiz zu setzen.

Die restlichen Läufe sind langsame Läufe über kürzere Distanzen.

Ergänzt wird das Lauftraining durch:

2-3 mal 1 Stunde statisches Stretching in der Woche, zumeist vor den kürzeren Läufen.

15 Minuten Stretching nach jedem Lauf.

1,5 - 2 Stunden Krafttraining pro Woche (Bein-, Bauch-, Gesäß- und Rückenmuskulatur). Auf 6 Steigerungswochen folgt 1 Woche Pause.

1 Saunabesuch pro Woche.

Zum Stretching: Ich begann mich intensiver mit Stretching auseinander zu setzen, als ich im Laufe meiner Marathonvorbereitung Probleme mit der rechten Achillessehne bekam. Einen wahren Motivationsschub in Richtung Stretching erfolgte jedoch aufgrund einer Entzündung der Fußsohlensehnenplatte in Verbindung mit einem Fersensporn (Fasciitis plantaris) im linken Fuß. Auf der Basis der Ausführungen in „Lore of Running" von Tim Noakes (dem kompetentesten Laufbuch auf wissenschaftlicher Basis, das ich kenne) begann ich, mir ein Stretchingprogramm zusammen zu stellen. Schmerz diszipliniert, konsequent 3mal die Woche für ca. 1 Stunde führte ich nun statisches Stretching vor dem Laufen sowie 10-15 Minuten nach dem Laufen durch. Nicht sofort, auch nicht übermorgen stellten sich Verbesserungen ein, nach einigen Wochen und Monaten war ich jedoch beschwerdefrei und bin seither von Verletzungen verschont geblieben.

Das Lauftraining findet fast ausschließlich auf Waldwegen im hügeligen Gelände statt, ich wohne direkt am Taunus.

2. Seele und Geist

Zuerst gibt der Kopf auf. Daraus folgt, daß man sich seelisch und geistig vorbereiten kann und muß, wenn man eine außergewöhnliche Leistung vollbringen will. Aufgrund meiner seglerischen Aktivitäten bin ich auf die Methode der Vorsatzbildung von Hannes Lindemann gestoßen. Ziel ist, formelhafte Vorsätze via Autosuggestion so im Unterbewußten zu verankern, daß sie in schwierigen Situationen automatisch zu Hilfe kommen, alle Lockrufe aus einem bequemeren Jenseits an dem auf diese Weise vorbereiteten Unterbewußtem abprallen. Lindemann dachte dabei in erster Linie an Schiffbrüchige und testete ihre Anwendbarkeit in einem bewundernswerten Selbstversuch („Allein über den Ozean. Ein Arzt in Einbaum und Faltboot", Hannes Lindemann).

Meine Vorsätze lauten:

Wir schaffen es – Körper, Seele, Geist: Moskau.

Vorwärts, nicht aufgeben.

Die Vorsätze sollten mehrmals täglich 4-6 Minuten dem Unterbewußtsein in entspannter Atmosphäre eingeprägt werden.

Die Umsetzung des Trainingsplanes

1. Schwerpunkt Körper

2.800 km liegen seit Ende August im Training hinter mir. Der Trainingsplan wurde weitgehend eingehalten, wobei er für mich immer wieder ein Grenzgang darstellt zwischen:

Der Überwindung innerer Widerstände, der Unlust, diese Trainingsbelastung heute, jetzt, in diesem Augenblick auf mich zu nehmen.

Der Vermeidung einer körperlichen Überforderung mit der drohenden Gefahr, mich zu verletzen, längere Zeit aussetzen zu müssen.

Zu 1: Heute (15.11.02) steht ein weiterer 65 km Lauf an. Die Motivation ist auf dem Tiefpunkt. Zudem regnet es, zum Glück, eine Ausrede ist vorhanden. Andererseits steht der Verlust von 65 Trainingskilometern dagegen, die sich auf Dauer im Trainingsplan als Soll-/Istabweichung manifestieren. Somit stehe ich im Konflikt, im Widerspruch zwischen Pflichterfüllung und dem einfach mal treiben lassen. Wie will ich allerdings mit so einer Einstellung die 64 Tage des Transeuropalaufes durchstehen? Es hört auf zu regnen, Mist. Mit 45 Minuten Verspätung breche ich auf, na also, es geht doch.

Zu 2: Ab Anfang Dezember wird der 15 km Tempolauf eingestellt und durch einen langsamen Lauf ersetzt. Die sich daraus ergebende zusätzliche Belastung bei steigendem Trainingsumfang insgesamt erscheint mir zu groß, die Gefahr einer Verletzung virulent. Auch oder gerade im Training ist mit dem Körper sorgsam, schonend umzugehen. Tauchen doch immer mal wieder körperliche Beschwerden auf. Linkes Knie innen, dann außen, rechtes Knie, Fußballen am großen Zeh, Kniekehle. Nichts verfestigt sich, was ich positiv bewerte, als Anpassungsprozeß an die steigende Belastung sehe. Ich beschließe, den Wechsel von 4 auf 5 Trainingstage in der Woche zu verschieben, ohne den Umfang zu reduzieren. Die Regenerationstage erachte ich derzeit noch als extrem wichtig.

Insbesondere zu Beginn kann ich nach langen Läufen nicht wie gewohnt entspannen. Die Körpersysteme sind noch zu aktiv. Dies setzt sich gelegentlich des nachts weiter fort. Ich dämmere für 30 Minuten, bin dann wieder wach, was bis zum Morgen andauern kann.

Ein langer Lauf um die 60 km in schwierigem Gelände bedeutet trotz Nahrungsaufnahme während des Laufes bis zu 3 kg Gewichtsverlust, die ausgeglichen werden wollen. Daher esse ich alles, worauf ich Appetit habe: Obst, Gemüse, Fleisch, Fisch, gerne Fettiges, Nüsse, Schokolade, Gummibärchen, Kuchen, ...., folge keinem Ernährungsplan. Auf diese Weise kann ich mein Gewicht von knapp 85 kg (bei 195 cm Körpergröße) in etwa halten.

Das Laufen längerer Strecken formt mit der Zeit Körper und Geist, richtet sie auf das Ziel hin aus. Die Seele wird langsam erschlossen, formen läßt sie sich nicht. Das Laufen fällt leichter, wird unbeschwerter. Der Geist denkt bei den vielen Stunden, die bei langen Trainingsläufen vor einem liegen, zusehends weniger bereits an das Ende des Laufes, an die Erholung. Das Ende, langsam wird es nicht mehr herbei gesehnt, es gelingt mehr und mehr ein Ruhen im Augenblick. Fliehe nicht den Lauf, genieße ihn. Wichtig für mich wird, den Trainingsplan nicht als Schinderei, als Voraussetzung für das Ziel Transeuropalauf zu sehen, sondern bereits als Bestandteil des Weges zum Ziel (letztendlich Moskau), der uns bereits bereichert, während wir ihn zurück legen.

Kurz vor Weihnachten beschließe ich einen kleinen Test zur Selbstbestätigung. An drei Tagen 65, 70 und 60km +/- viele Höhenmeter durch den Taunus. Die Stunden gehen zum Teil dahin, ohne daß sie mir sonderlich bewußt werden. Ist dies die beginnende Einheit von Körper, Seele, Geist? Ich bin zufrieden, fühle mich sanft glücklich, wohltuend ausgeglichen. Das Selbstvertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit ist gestärkt. Dennoch sind die Dimensionen des Transeuropalaufes für mich nicht wirklich faßbar, spüre ich nur einen Hauch dessen, was mich erwartet, steigt der Respekt.

2. Schwerpunkt Seele und Geist

Meine beiden Vorsätze stehen an Fenster und Schranktüren in meinem Zimmer, blicken mir aus dem Spiegel des Badezimmerschrankes entgegen. Allerdings hämmere ich mir diese Vorsätze nicht mehrmals täglich ein, was mir anscheinend nicht liegt, sondern rezitiere sie gelegentlich bei den langen Läufen, wenn mir danach ist.

Es haben sich zudem zusätzlich zwei andere Sprüche im Training als hilfreich erwiesen:

Der zentrale Kraftpunkt liegt in der Gegenwart.

Ich bin Teil des Ganzen, von überall her strömt Kraft mir zu.

Diese beide Sprüche spreche ich je nach Gusto im Geiste vor mich hin, wenn es nicht oder nicht mehr so läuft wie gedacht, der Lauf sich scheinbar endlos in die Länge zieht. Die Sätze zerlege ich dabei in Silben, die mit der Ausatmung verbunden werden. Diese Technik wende ich auch auf meine beiden Vorsätze an.

Die mich umgebende Natur nehme ich bewußter war, es entwickeln sich Dialoge. Wenn die Sonne hinter den Wolken hervor bricht: Liebe Sonne, meine Freundin, durchdringe mich mit deinen Strahlen, nimm mir den Schmerz, heile meine Wunden, fülle mich mit deiner Energie, laß mich tänzeln, dir zu Ehren, Gott zu Ehren, dem Weltgeist, der Schöpfung zu Ehren. Auch mit Felsen, Bäumen, Vögeln, Pferden, und, und, und lassen sich Dialoge führen, die mich bereichern, Kraft spenden und Freude machen.

Seit ich zudem gelesen habe, daß es hilfreich ist, sich Vorsätze bildhaft vorzustellen oder sie mit Bildern zu kombinieren, hängt eine Europakarte bei mir an der Wand, eine lange, gelbe Linie läuft quer über die Karte von Lissabon nach Moskau. Seitdem weiß ich auch, wieweit nordöstlich Moskau liegt.

Ausblick

Noch 3 Monate bis zum Start. Wie ich aus dem Lauf hervorgehen werde ist ungewiß. Jedoch, ich bin Optimist. „Kein Pessimist hat je die Geheimnisse der Sterne aufgedeckt oder ein unbekanntes Land gefunden oder der menschlichen Erkenntnis einen neuen Himmel eröffnet.""(Die taubstumme und blinde Helen Keller in ihrem Buch „Optimismus").

Ó Günter Böhnke, 19. Januar 2003, 65719 Hofheim

vingilot@t-online.de

unterstützt von „EHRL Orthopädie + Sport", 65812 Bad Soden, www.ehrl-bad-soden.de