Eins werden mit dem Schritt – Impressionen vom Transeuropalauf

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TransEurope-FootRace

von Lissabon nach Moskau

in 64 Tagen über 5.035 km

19.April – 21. Juni 2003

 

Prolog

Viele Menschen interessieren sich nicht für Selbsterfahrung. Die Vorstellung, daß man Anstrengungen und Willenskraft aus reiner Lebensfreude auf sich nimmt, aus Lust die Welt und sich selbst zu erfahren, dieser Gedanke kommt ihnen nicht. Nein. Es muß immer praktische Arbeit sein, sofort anwendbar, sofort von Nutzen (nach Messner, Alleingang Nanga Parbat, S. 128).

Der Lauf zwingt wie jede andere Ausdauerleistung auch, etwa die Tour de France im Radsport oder die Rennen um die Welt beim Segeln, zum Nachdenken über sich selbst. Von dort ist es nur ein kleiner Schritt zur beliebten Sinnfrage im speziellen: "Wozu dieser Lauf?", als auch im allgemeinen: "Wozu lebe ich?". Dabei stammt das Wort Sinn ursprünglich vom Verb sinnen ab, das "gehen, reisen" bedeutete. Noch weiter zurück verfolgt hat es seine Wurzel wohl in der Bedeutung "eine Richtung nehmen, eine Fährte suchen". "Wo gehe ich hin? Immer nach Hause." beschreibt es Novalis.

Vor dem Lauf

Wenn ich den anderen zuhöre merke ich, was für ein Anfänger im Ultralauf ich bin, welch geringe Erfahrung ich besitze (nur ein Etappenlauf über 4 Tage, 2 x 100 km, ein paar kürzere Ultraläufe). So wenige Kilometer unter dem Gürtel, so wenig Härte und Durchhaltevermögen bisher gezeigt. Es kommt der Gedanke hoch: Bin ich hier richtig? Werde ich für voll genommen?. Aber ich bin ruhig, spüre innere Ruhe, Frieden, bin bereit zu gehen, sehne den Start herbei.

Seit November 2001 ist dieser Lauf in meinem Kopf, erst tastend, abwägend, mit dem Gedanken nur spielend. Aber eigentlich wußte ich von Anbeginn, daß ich wollte, der Lauf auch ein Stück mich gefunden hat. Der Lauf hat somit lange vor dem Start in meinem Kopf begonnen und muß, wie ich während des Laufes erfahre, auch im Kopf bewältigt werden. Mein zentraler Vorsatz, den ich vorab tief in mir verankert habe, lautet: Wir schaffen es: Körper, Seele, Geist - Moskau. Immer vorwärts, Schritt für Schritt möchte ich dieses einzigartige Abenteuer, diesen Lauf in mich aufnehmen, werde nicht aufgeben, habe Moskau vor Augen. Der Weg dahin wird die nächsten 64 Tage mein Lebensinhalt sein, voller Erfahrungen und Bereicherungen, so hoffe ich.

Der Lauf – Impressionen

64 Tage sind eine lange Zeit, die für die einzelnen Läufer/innen mehr oder weniger in einzelne Phasen unterteilt werden kann. Die Aufteilung in Phasen erfolgte rückblickend auf Basis der SMSe, die ich tägliche während des Laufes an Gunter Scheurich von Passtschon98versandt habe. Sie können unter www.passtschon98.de/transeuropa.htm eingesehen oder vom Autor als Word-Dokument angefordert werden.

 

Phase 1: Euphorie des Beginns (Tag 1 – 4)

Jeder der an der Startlinie steht kann sich bereits als Sieger fühlen. Hier, am Torre de Belem in Lissabon, dem Punkt an dem Eroberer und Entdecker zur See aufgebrochen sind, ist nicht der eigentliche Start des Transeuropalaufes. Er hat bereits vor Monaten begonnen, als es galt zu trainieren, sich auf diesen Lauf vorzubereiten. Bereits während dieses Zeit war ein hohes Maß an Disziplin, Geduld und Zielorientierung aufzubringen, der Wille zu schulen. Freudiger Lohn ist nun an der Startlinie zu stehen, dabei zu sein, nach vorn zu blicken, einem Abenteuer entgegen. Unsicherheit und Anspannung der letzten Tage verfliegt, ich genieße das Leben auf der Straße, das Leben im Augenblick. In der Euphorie des Beginns darf ich jedoch nicht vergessen, den Grundstein für einen erfolgreichen Lauf zu legen, muß ich lernen, sehr schnell lernen, meine Kräfte einzuteilen.

 

Phase 2: Die extreme tägliche Belastung wird spürbar (Tag 5 – 18)

Nach nur wenigen Tagen verfliegt die Euphorie, beginnt die extreme tägliche Belastung Körper und Geist herauszufordern. Die physiologische Vorbereitung war wichtig, ist jetzt aber zweitrangig. Die Umstände anzunehmen, zu akzeptieren wie sie sind, wird unabdingbar. Stefan Schlett, ein erfahrener Ultra- und Transkontinentalläufer, meint dazu: "Dies ist ein großes Abenteuer, ein Überlebenstrip. Jeden Tag ist mit vielerlei Problemen umzugehen. Ärgern nützt nichts, kostet nur Energie, die zum Laufen benötigt wird. Wenn jemand schnarcht, du kannst es nicht ändern. Wenn es dich stört, Ohrstöpsel rein. Fehlt Toilettenpapier, nimm, wenn genug vorhanden ist, genügend mit. Ist die einzige Toilette am Morgen nicht mehr benutzbar, geh hinter das Haus. Wenn die Verpflegung nicht ausreichend ist, verschaffe dir unterwegs Zusatznahrung."

Zeit habe ich nur beim Laufen, ansonsten: 4:30 Uhr wecken, vorbereiten, packen, frühstücken, Start um 6:00, je nach Etappe zwischen 18 und 20 Uhr im Ziel, duschen, essen, Fußpflege. Ich schlafe zu wenig, im entspannten Zustand schmerzen zudem die Muskeln.

In der Anfangsphase muß sich auch der Magen-/Darmtrakt an die ungewohnte Belastung in Verbindung mit der gesteigerten Nahrungsaufnahme anpassen. Magenprobleme, Durchfall gehören zu den zu bewältigenden Hindernissen. Die Substanz des Körpers wird angegriffen, die Leistungsfähigkeit herabgesetzt, es zählt nur noch das Ankommen im Etappenziel. Der gesamte Bewegungsapparat wird auf die Probe gestellt, Überlastungsreaktionen stellen sich ein, bei mir eine Knochenhautentzündung am rechten Schienbein. Unabdingbar ist, auf die allerersten Körpersignale zu achten und unmittelbar zu handeln, die Intensität zurückzunehmen, auch wenn es bedeuten sollte, 20 km oder mehr bis ins Etappenziel zu wandern. Ansonsten wird aus einem ersten Schmerz, ein leichtes Ziehen schnell eine ernsthafte, langwierige Verletzung. In einem Rennen über diese Distanz ist genug Zeit, Verletzungen abheilen zu lassen, aber nur, wenn du deinem Körper die Möglichkeit dazu gibst.

Geduld und Selbstdisziplin, gepaart mit gesundem Optimismus sind mentale Eigenschaften, die spätestens jetzt zur Blüte gebracht werden sollten. Der Geist muß in dieser Phase Schwerstarbeit leisten, gerät schnell in Krisen, die das Vorankommen erschweren. Belohnungen wie zwei Colas und Donuts in einer Bar oder ein dickes Zitroneneis am Nachmittag verhelfen zum Schlußspurt oder beugen einer erneuten Krise vor. Nur nicht über die Stunden und Minuten bis zum Etappenziel nachdenken, die Tage und Wochen bis Moskau, ansonsten dehnt sich dieser Lauf, jede Minute, jeder Kilometer scheint endlos. Was zählt ist die Konzentration, das Leben im Augenblick: Schritt für Schritt, hunderttausendmal durch einen heißen Tag. Nur nicht zu weit vorausschauen, den Geist unter Kontrolle halten, nur der nächste Schritt zählt. Dieser Lauf muß im Kopf bewältigt werden, ansonsten keine Chance.

In dieser Phase ist der Lauf KEIN Spaß. Lust am Laufen? Kaum. Eher eine Übung in Konsequenz und Beharrlichkeit, ein Weg der Läuterung. Körper und Geist erfahren Krisen, müssen hindurch, die Selektion derer, die ankommen werden, beginnt. Jedoch, noch einmal, der Körper paßt sich an, sofern man ihm die Zeit dazu gibt, ihn nicht unnötigerweise überfordert. Insbesondere zwei Läufergruppen sind dabei zu unterscheiden:

Das Dilemma oder die Abwärtsspirale der Langsamen:
In den Unterlagen des Veranstalters finden sich Hinweise zum Tempo. Langsame, d.h. Marathonläufer über 3:30 h, sollten in der Regel 6,0 km / h, inklusive aller Pausen und Unterbrechungen, höchstens jedoch 6,5 km / h zurücklegen. Was bedeutet dies bei einer 100 km Etappe wie am 4 Tag? Über 16 h auf der Strecke, Start um 6:00, Zielankunft um 22:00. Nun noch Lager bereiten, duschen, essen, Wunden lecken und dies alles in einer Halle, die bereits dunkel ist, weil sich die früher Angekommenen um 21:00 zur Ruhe begeben haben. Glücklich wer einen persönlichen Betreuer/in dabei hat, der zumindest das Lager vorbereitet hat, Essen bereit hält. Kaum die Augen zu, wecken um 4:30, mit den Belastungen der Vortage in den Knochen an den Start um 6:00, die Abwärtsspirale der Langsamen beginnt. Der Ausweg aus dem Dilemma? Schneller laufen, das Risiko von Überforderung und Verletzungen eingehen? Es ist ein Grenzgang, der individuell zu gestalten ist.

Der Ehrgeiz der Schnellen:
Schnelle, gemäß Veranstalter Marathonläufer unter 3 h, sollten 10 km / h nicht überschreiten, wiederum inklusive aller Unterbrechungen. Laufen die Langsamen generell mit dem Ziel anzukommen, geht es bei den Schnellen zumeist um die Plazierung z.B. mit dem Ziel, unter die ersten Drei oder Zehn zu kommen, Tagessiege zu erringen. Ein gegenseitiges Abtasten setzt ein, die Leistungsfähigkeit möglicher Konkurrenten abgeschätzt. Taktisch wird versucht, nicht zu viel Zeit auf die / den jeweils Führenden zu verlieren. Somit besteht kein wesentlicher Mangel an Zeit zur Regeneration im Vergleich zu den langsamen Läufern, die Gefahr lauert in Form von Verletzungen, die das Aus oder zumindest das Ende der eigenen Ambitionen bedeuten können.

Den Charakter dieser Phase spiegelt auch die Ausfallrate wider. Von den insgesamt 22 ausgeschiedenen Läufer/innen haben 16 im Rahmen dieser Phase Schluß gemacht.

 

 

Phase 3: Der Körper hat sich teilweise angepaßt (Tag 19 – 24)

Das Laufen beginnt leichter zu fallen. Dank Ohropax sind die Nächte in den Turnhallen nun ruhiger, ich schlafe zwar besser, jedoch, der Mangel an Schlaf summiert sich, wird zum Problem. Auch im Schlaf findet der Körper nicht die notwendige Ruhe. Des nachts wird das späte, umfangreiche Essen für die Belastung des nächsten Tages aufbereitet, begleitet von Schweißausbrüchen. Dennoch wird der Kalorienverbrauch von ca. 6 - 8.000 kcal / Tag nicht ausgeglichen. Eine Etappe von "nur" 70 km verschafft die dringend benötigte, zusätzliche Freizeit zur Erholung. Wie sich die Relationen durch diesem Lauf verschieben.

 

Exkurs: Das soziale Gefüge

Die sozialen Kontakte sind beschränkt, noch ist jeder zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Später wird mir bewußt, daß ein Gemeinschaftsgefühl unter den Läufern nicht zustande gekommen ist, die Stimmung von Egoismus (insbesondere Futterneid am abendlichen Buffet), Desinteresse, Geringschätzung, sogar Mißgunst und Neid durchsetzt ist. Allerdings kann wohl kaum jemand bei solch einer extremen Belastung, dem gemeinsamen Nächtigen auf engstem Raum, über diesen langen Zeitraum seine (soziale) Maske aufbehalten. Man offenbart sich, lernt sich und die anderen kennen wie sonst niemals. Die Frage ist, ob diese vorausgesetzte Gemeinschaft der Läufer nicht einer Wunschvorstellung, einer sozialen Konvention entspringt oder sich nicht vielmehr Urinstinkte Bahn brechen, die in früheren Zeiten unserem Überleben dienten. Zumindest ist bei diesem Lauf eine Zweckgemeinschaft wie bei einer Seilschaft am Berg nicht zwingend notwendig, bzw. wird auf einer kleineren Ebene gebildet – Läufer/persönliche Betreuerin, Läufer/Läufer – in der sich Partikularinteressen besser einbringen, Sympathie und Antipathie leichter auspendeln, gegenseitiges Verständnis direkter aufbauen lassen. Diese Erkenntnis, so meine ich, ist wertvoll genug. Es sage somit keiner, dieser Lauf, solch eine Ausdauerleistung sei sinnlos, ohne jeglichen Nutzen.

"Wer sich an sich und seinem Tun freut, muß seine Gefühle nicht mit Bosheit, Aggressivität oder Rachsucht füttern, um (schaden)froh zu sein (Messner, Berge versetzen, S. 173)." Andererseits stellt Messner selber fest: "Wie befreiend sind doch Ausdrücke des Ärgers, der Wut, der Verzweiflung über sich selbst (Messner, Berge versetzen, S. 166)." Somit brauche ich ein Ventil, um nörgelnd zu gesunden. Wer bietet sich da besser an als der Veranstalter, die Organisatoren, sind sie doch für alles, wirklich alles, verantwortlich. Zudem scheinen sie bereit, uns diesen Gefallen zu tun, wissen sie, was auf sie zukommt. Steht doch in der Pressemappe und Teilnehmerinformation zum Transeuropalauf "Ihr reagiert gelegentlich überempfindlich, werdet anderen gegenüber ungerecht oder laßt euch zu aggressiven Äußerungen hinreißen. ..... Leute, es ist völlig normal. Denkt doch mal an hochbezahlte Tennisspieler. Die beißen in ihren Schläger, weil sie verzweifelt sind, daß der Blödmann auf der anderen Seite des Netzes auf jeden Ball reagiert. Er sucht einen Schuldigen und den findet er beim unfähigen Schiedsrichter, dem zu lauten Publikum, dem lahmen Balljungen usw." (TransEurope-FootRace, Schulze, S. 10). Mir hat gelegentliches nörgeln geholfen, nicht alle haben dieses Hilfsmittel benötigt, insbesondere die japanischen Teilnehmer/innen schienen gegen die Versuchung gefeit.

 

Phase 4: Das Laufen wird zum Automatismus, Freiraum entsteht (Tag 25 – 58)

Die Anpassung des Körpers ist abgeschlossen, ich habe meinen Laufrhythmus gefunden, stundenlang im Gleichtakt, Schritt für Schritt, ohne im Ziel erschöpft zu sein. Das Laufen wird mehr und mehr zum Automatismus. Für den Geist jedoch dehnt sich die Zeit. So versuche ich immer wieder ihn in Gleichmut und Geduld zu üben, ihn für die Schönheit des Augenblicks zu öffnen:

Morgennebel, eine Allee entlang, schemenhaft die Läufer, direkt vor uns steigt langsam die Sonne als bleicher Ball im Nebel empor, magische Momente.

Das Konzert der Feldlerchen.

Die von Blütendolden bedeckten Robinien, weiß in der Sonne strahlend.

Violette Lupinen, in wunderbaren Mengen.

In gelungenen Momenten verschmelzen Körper und Geist mit Atmung und Schritt, tragen mich flott ins Ziel, ruht der Geist in sich, schweift nur ein wenig, nimmt den Horizont in sich auf, lächelt, während die Zeit verstreicht, einfach so, ohne Belang.

Dazu kommt die Erkenntnis, immer wieder genährt von Stefan Schlett, daß das Leben, zumindest für mich und die anderen langsamen Läufer, zu großen Teilen auf der Straße stattfindet. Bei 64 Tagen muß da Qualität rein. Morgens nach den ersten 2-3 h nicht an der Bäckerei vorbeilaufen, hinein, zwei Stückchen mitnehmen, beim Gehen goutieren, toll. An den Verpflegungsstellen nicht schnell, schnell, sondern setzen, essen, ein Plausch. Für mich keine verlorene Zeit, Energie tanken, die dringend benötigte, keinen Raubbau betreiben, dazu ist die Distanz zu lang.

Im Gegensatz dazu werde ich immer wieder mit folgendem konfrontiert:

Eine Reporterin fragt mich: Bekämpfen Sie Ihren inneren Schweinehund?
Ich bekämpfe mich nicht, denn dann bin ich auch Verlierer. Ich horche in mich hinein, Signale beinhalten wertvolle Informationen, mit denen positiv umgegangen werden kann. Körper, Seele, Geist, gemeinsam wollen wir nach Moskau.

Die Erwartungshaltung (sogar von Werner Sonntag): Von Erschöpfung zerfurchte Gesichter, ausgemergelte Körper am Rande des Zusammenbruchs. Erstaunen über freundlich lachende Gesichter, normalen Gang. Dabei wachsen Körper und Geist im Laufe der Veranstaltung, werden stärker als jemals zuvor. Das Rezept: langsam, essen als Dauerbeschäftigung, trinken, schlafen, eine positive Grundhaltung. Andererseits ein Leichtes, sich kaputt zu laufen.

Erwartungshaltung: " "Zurzeit läuft keiner schmerzfrei", sagt Uwe Görtz, der als ARD-Reporter den Lauf begleitet" (Berliner Zeitung vom 26. Mai 2003). Ich war zu diesem Zeitpunkt schmerzfrei, andere auch. Es mag sogar Läufer geben, die glauben, zu so einem Lauf gehöre Schmerz dazu, ansonsten sei es kein richtiger Transkontinentallauf. Sie werden finden was sie suchen. Dabei besteht die Kunst gerade darin, weitgehend schmerzfrei zu bleiben, diesen Lauf zu genießen.

Also keine Quälerei, kein Selbstmißbrauch , keine Vergewaltigung des Körpers? Für mich eine konzentrierte Anstrengung gepaart mit viel Durchhaltevermögen, die mit tiefer Befriedigung verbunden ist, es wieder geschafft zu haben. Daheim auf der Couch liegend, den Fernseher eingeschaltet, das Bier in Griffweite, verspüre ich diese Befriedigung nicht.

 

Phase 5: Die Luft ist raus (Tag 59 – 63)

Ich laufe nur noch, um anzukommen. Vorfreude auf Moskau kommt nicht auf, nur eine gewisse Erleichterung, daß es demnächst vorbei ist. Die Belastung der vergangenen Wochen scheint nun als bleierne Müdigkeit auf mir zu liegen. Manfred Leismann: "Nachdem ich so weit gekommen bin, warum quält mich dieses letzte Stück so?". Es ist diese Phase, die ich mir selber am wenigsten erklären kann, die mir am wenigsten zugänglich ist. Mag sein, daß es einfach an der Zeit war, diesen Lauf zu beenden, nach Hause zu gehen. Der Punkt erreicht ist, an dem es genug ist, genug von Höhen und Tiefen, konzentrierter Anstrengung, Geduld und Beharrlichkeit, Nebel, Sonne und Regen, Landschaften und Verkehr, genug von Gedanken und Ruhen im Augenblick, genug, um eine lange Zeit davon zu zehren.

Die Leere zum Schluß

Kein Siegestaumel, keine Freude, weder Traurigkeit, noch Tränen der Erleichterung, der Ergriffenheit. Das vorherrschende Gefühl ist Leere, eine große Leere.

Den Zieleinlauf, den letzten Tag hatte ich mir ganz anders vorgestellt. 63 Tage, über 5.000 km liegen hinter mir, der 64. Tag sollte nun Höhepunkt und Abschlußfest sein. Nach 42,2 km, im Ziel meines ersten Marathon im Oktober 1997, wurde ich von einem intensiven Gefühlsausbruch überschwemmt, so vieles fiel in diesem Moment von mir ab, Tränen flossen, ich war glücklich. Und nun diese Leere, schwer zu beschreiben, wie abgestumpft, als ob ich mich im Innern verlaufen hätte, an einem Ort angelangt bin, an dem ich nicht hingehöre, zu dem ich nicht wollte. Krank scheine ich nicht zu sein, frage bei anderen nach, stoße auf Ähnliches.

Es mag seine Zeit brauchen, bis ich den Lauf in seiner Konsequenz begreife. Die Veränderung spüre, die er bewirkt hat. Eines ist sicher: Wer kennt schon seine Grenzen, wenn er sich Ziele setzt und sie mit Hingabe verfolgt.

Nach dem Lauf

Die Lust am Laufen habe ich nicht verloren, mich bereits zu neuen Läufen angemeldet, auch wenn ich die Belastung in den Beinen, den Muskeln und Gelenken auch nach fast 4 Wochen noch spüre. Hätte man mich kurz vor dem Ende des Laufes gefragt, ob ich jemals wieder an einem Transkontinentallauf teilnehmen werden, die Antwort wäre ein klares Nein gewesen. Kurz nach dem Lauf, bei den ersten Interviews ist dies Nein bereits zu einem Jein mutiert. Jetzt weiß ich, Ja, ich möchte mit meiner Erfahrung aus dem Transeuropalauf noch einmal solch einen Lauf bestreiten. Wäre der Run Across America 2004 nicht so teuer (ca. 18 –20.000 US $) und eigene Betreuer notwendig, ich würde es mir ernsthaft überlegen.

Die Entscheidung ist gefallen, daß ich in meinen ursprünglichen Beruf nicht zurückkehren werde, es käme mir nach der fast zweijährigen Auszeit, die vom Fahrtensegeln und Laufen, vom Leben in und mit der Natur geprägt war, wie ein Rückschritt vor, ein Anknüpfen an einen Lebensabschnitt, der der Vergangenheit angehört. Erst einmal will ich mir die Freiheit bewahren, aufzubrechen, wohin ich will.

Ja zum Transeuropalauf 200X

Der Transeuropalauf 2003 war ein Erfolg, ein einzigartiges, wunderbares Erlebnis. Mit etwas Abstand schrumpfen all die Mängel, Querelen, Enttäuschungen und Auseinandersetzungen, letztendlich sind sie Teil von uns, prägen sie auch unser Alltagsleben. Aber das Gefühl an etwas Großem teilgehabt, eine außerordentliche Leistung vollbracht zu haben, ist nicht nur von Dauer, sondern hat uns geprägt, Spuren hinterlassen - ich wage es nicht nur von mir zu sprechen. Mit diesem Lauf haben wir uns auf eine Reise eingelassen, die nicht zum Ausgangspunkt zurückführt.

Mit einem kompetenten Sponsor, der es erlaubt mit 1-2 Personen eine Wiederauflage Vollzeit vorzubereiten, Preisgelder garantiert, was wäre nicht alles erreichbar. Es muß ja nicht gleich die Popularität einer Tour de France oder der Rennen um die Welt beim Segelsport erreicht werden, das Potential jedoch ist vorhanden. Es gibt weit mehr interessierte Läufer/innen als Radfahrer oder Segler, der Trend ist ungebrochen. Viele der populären Sportarten, auch wenn sie mehrheitlich als Ausgleich, als Hobby betrieben oder auch nur konsumiert werden, haben ein Top Event. Mit einer spannenden Berichterstattung durch Experten, wie sie ansatzweise bei www.steppenhahn.de, insbesondere durch Markus Müller, stattgefunden hat, kann eine breite Öffentlichkeit auch über einen Zeitraum von 64 Tagen gefesselt werden. Es geht im Kern nicht nur ums Laufen, dem Mitfiebern mit seinen Lieblingen oder Favoriten, es geht um Sieg und Niederlage, das Überwinden von und Scheitern an Hindernissen, Teilhabe an Leid, Freude und Verzweiflung, begehrte Emotionen, die in dieser Intensität im eigenen Alltagsleben weitgehend verschwunden sind .

Mit dem Beitritt von Polen, Litauen, Lettland und Estland zur Europäischen Union im Mai 2004 ist eine alternative Streckenführung denkbar, die keinerlei Grenzschwierigkeiten mehr beinhaltet. Von Cádiz nach Tallinn, damit wären Länderdurchquerungen mit eigener Wertung (Spanien, Frankreich, Deutschland, Polen, baltische Staaten) in den Lauf integrierbar für Läufer/innen, die sich die Gesamtdistanz nicht zutrauen. Das Medien- und Publikumsinteresse in den einzelnen Länder wäre sicherlich ausgeprägter. Interessant wäre auch Teams zuzulassen. Auf diese Weise könnte es u.a. Firmen-, Länder- oder Frauenteams geben.

Sponsoren, vor mit Euren Anforderungen und Ideen, damit sie ins Konzept einfließen können, der 2. Transeuropalauf Wirklichkeit werden kann, ich bin dabei.

Epilog

Wiesen voller Löwenzahn. Ein Hauch und die Samen schweben so leicht, so schwerelos dahin. Ich stelle mir vor, so laufen zu können.

Dieser Transeuropalauf an sich war und ist zweitrangig. Und das ist gut so. Wäre er es nicht, ständig müßte ich unterwegs sein. Das Ziel war und ist nicht Moskau, denn es hört auf zu existieren, sobald es erreicht ist. Von Dauer sind Selbsterfahrung und daraus sich entwickelnde Selbsterkenntnis. "Wo gehe ich hin? Immer nach Hause." beschreibt es Novalis.

 

 

 

 

Anmerkung zum 1. Transeuropalauf 2003:

In Summe wurden 5.035,7 km zurückgelegt. Die km Angabe basiert auf den nachträglich korrigierten Werten. Davon in der Zeitwertung sind 5.018,4 km. Die ersten 8 km in Lissabon sowie die 9,3 km am 64. Tag in Moskau wurden als Gruppe ohne Zeitnahme gelaufen.

Am Start in Lissabon waren 7 Läuferinnen, 36 Läufer und 1 Rollstuhlfahrer (Bernard Grojean) aus 12 Nationen. Deutschland stellte mit 20 Startern die meisten Teilnehmer, gefolgt vom laufbegeisterten Japan mit 10. Mariko Sakamoto aus Japan, als einzige Frau, 20 Läufer und Bernard Grojean erreichten Moskau. Schnellster bei den Männern war Robert Wimmer aus Deutschland, gefolgt von Martin Wagen, Schweiz, und Wolfgang Schwerk, Deutschland.

Für die 5.018,4 km benötigte ich 666:20:53 h. Dies sind 7:58 Minuten/km bzw. 7,53 km/h, was mir Platz 15 einbrachte. Der Schnellste, Robert Wimmer, brachte es auf 478:14:51 h.

 

Literatur:

Alleingang Nanga Parbat, Reinhold Messner, 1979

Mein Weg zum Transeuropalauf, Bericht über Vorbereitung + Training, Günter Böhnke, Januar 2003

Transeuropalauf 2003: Meine täglichen SMSe, Günter Böhnke, April/Juni 2003

Berge versetzen: das Credo eines Grenzgängers, Reinhold Messner, 2. Auflage, 1996

TransEurope-FootRace – Pressemappe + Teilnehmerinformation, Ingo Schulze, 8. Auflage, Februar 2003

 

Ó Günter Böhnke, Juli 2003, Vorderwart 2a, 65719 Hofheim

vingilot@t-online.de